Der dritte Beitragszahler der Altersvorsorge: Stolpersteine und Opportunitäten

von Prof. Dr. Erwin W. Heri[1

Langfristig-strategische Überlegungen zu Möglichkeiten und Opportunitäten aller möglichen Initiativen bedingen oft ein „Out-of-the-box“-Denken. Man muss traditionelle Pfade verlassen und deren Gültigkeit vielleicht sogar in Frage stellen. Das ist bei Überlegungen zum „dritten Beitragszahler“ der Altersvorsorge nicht anders. Wobei wir einleitend betonen wollen, dass es bei den nachfolgenden Überlegungen nicht um einen Beitrag im Rahmen der Neuorganisation des Schweizer Vorsorgewesens geht. Die Überlegungen sind viel allgemeiner und gelten unabhängig von der dann zu maligen Ausgestaltung unserer Vorsorgewerke. Es geht um das Verständnis der Funktionsweise der Anlagemärkte und um die Art und Weise wie dieses zum Vorteil aller in ein System der Altersvorsorge eingebaut werden kann.

Unter dem „dritten Beitragszahler“ verstehen wir ganz plakativ neben den Beiträgen der Arbeitgeber und denjenigen der Arbeitnehmer den Renditebeitrag der angelegten Vorsorgegelder.  Mit anderen Worten wir konzentrieren uns vor allem auf die private Vorsorge.[2] Der „dritte Beitragszahler“ fristet im Rahmen der zweiten Säule nicht selten ein Mauerblümchen-Dasein. Man verwendet irgendwelche Narrative aus dem Banken- und Anlagejargon, wendet sie auf die Bilanz der Pensionskassen an und delegiert die Sache dann an einen Anlageausschuss, dem man noch irgendwelche externen Spezialisten zugesteht. Angereichert mit komplexen versicherungstechnischen Analysen der Passivseite der PK-Bilanz werden dann Anlagestrategien abgeleitet, die dafür sorgen sollen, dass die versprochenen Verpflichtungen unter allen möglichen Umständen praktisch jederzeit eingehalten werden können. Dabei wird auf analytische Konzepte zurückgegriffen, die sich zwar in der realen Welt nicht wirklich bewährt haben (die verschiedenen Finanzkrisen lassen grüssen), sich aber durch eine analytische Eleganz auszeichnen, welche oft schon allein dadurch ihre Anwendung zu rechtfertigen scheinen.  Was meine ich damit?

Marktpreispsychose

Marktpreise gelten in unserer Gesellschaft nachgerade als heiliger Gral der Transparenz. Entsprechend gilt es vielerorts als unbestritten, dass Bilanzierungen – und damit auch der Bilanzwert von Unternehmungen – zu Marktwerten vorzunehmen sind. Es versteht sich von selbst, dass dies z.B. bei der Verwaltung der Anlagevermögen einerseits zu einer Erhöhung der Volatilität der (vermeintlichen) Portfoliowerte führt, und andererseits zu (unnötigem) Aktivismus verleitet. Ein kleines Beispiel: Wenn wegen ansteigender Zinsen und den entsprechenden Rechnungslegungsvorschriften die langfristigen Obligationen auf der PK-Bilanz an Wert verlieren, dann hat dies in einem modernen Asset/Liability-Umfeld Konsequenzen für die Mittelallokation.

Macht das Sinn, wenn doch die entsprechenden Anleihen dazu da sind, langfristige Verpflichtungen abzudecken und am Ende der Laufzeit wieder zu 100 zurückbezahlt werden?

Macht es ferner Sinn, Marktpreise zur Bewertung zu verwenden, wenn ein relevanter Teil der Anlagen, die bewertet werden, gar nicht vernünftig gehandelt werden können, weil die Märkte zu „dünn“ sind? Marktpreise kommen an solchen Märkten nur zu Stande, wenn es einen Käufer und einen Verkäufer gibt. Wenn sich Pensionskassen entscheiden, in grösserem Stil irgendwelche Assets zu verkaufen, dann werden kaum entsprechende Käufer am Markt sein und der Preis oder Kurs wird sich dann gegebenenfalls an einem ganz anderen Ort einspielen, als dem „vermeintlichen Marktpreis“.

Macht es dann Sinn, offensichtlich „imaginäre Marktpreise“ zur Bewertung der Bilanz (und damit der Bestimmung einer Über- oder Unterdeckung) zu verwenden? Wäre es nicht vernünftiger, Bewertungsgrundsätzen zu folgen, welche die zugrundliegende Anlagephilosophie abbilden (z.B. Obligationen bis zum Verfall zu halten oder mit Aktien eine „Buy-and-hold-Strategie“ zu verfolgen) und nicht einfach irgendwelchen imaginären Marktpreisen nach zu  hecheln, die im Zweifelsfall unnötigen oder sogar schädlichen Aktivismus auslösen? Mit den altbewährten Konzepten des Einstandswertes, der amortized cost oder der lower-of-cost-or-market  Bewertungen könnte solchen Überlegungen auf einfache Art und Weise Rechnung getragen werden.

Nun mag dies alles aussehen wir ein Streit um des Kaisers Bart. Wenn damit aber falsche Anreize und falsche Signale bezüglich der Mittelallokation einhergehen, dann ist die Sache weniger trivial, weil sie langfristig-strukturelle Probleme auslösen kann.

Die Angst vor dem kurzfristigen Risiko

Kurzfristigkeit ist zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden. Mehrmals täglich berieseln uns die Medien mit Börsenkursen, Deviseneinschätzungen, den neuesten Rülpsern von Herrn Draghi u.v.m. Für die langfristige Performance eines Anlegers ist dies alles irrelevant, lässt uns aber nicht in Ruhe. Auch den Verantwortlichen der PK nicht, und auch nicht seinen Anlageausschuss. Im übrigen steht hinter der kurzen Frist ein Riesenbusiness, welches es dem Anleger in der Tat schwer macht, die für ihn finanziell richtigen Entscheide zu fällen.

Daneben stehen mit unendlich vielen Datenbanken, Zeitreihen und mehr oder weniger populären statistischen Konzepten Instrumente zur Verfügung, mit welchen all dies noch in ein wissenschaftliches Mäntelchen verpackt werden kann. So ist es heute allgemein akzeptiert, dass Aktien vor allem volatil (und damit gefährlich) sind – man kann die Schwankungsgefahr ja täglich nachgerade mit Händen fassen. Aussagen wie „… natürlich, wenn man lange genug gewartet hat, hat man manchmal wohl etwas verdient, aber wer weiss schon, ob das in Zukunft auch wieder so ist?“, gehören dabei zum Standard-Argumentarium und dem Horrorszenario der Skeptiker. Sie finden sich ja auch immer wieder bestätigt, wenn sich grössere Korrekturen abspielen.

Die ausschliessliche Konzentration des „Mainstream“ auf „News“, kurzfristige Narrative, Volatilität und „imaginäre Marktpreise“ hat die Gesellschaft blind gemacht für die langfristige Entwicklung der Aktienbörsen. Blind für das Faktum, dass in der langen Frist die Aktiennotierungen ausschliesslich durch Innovation und Gewinndynamik der Unternehmen angetrieben werden und nicht durch irgendwelche spekulativen Gelder. Diese produzieren allerdings immer wieder die kurzfristigen (aber damit eigentlich für den strategischen Anleger irrelevanten) Über- und Untertreibungen.

Das Unverständnis für die entsprechenden Prozesse in breitesten Bevölkerungsschichten, die Angst vor den Reaktionen bei irgendwelchen kurzfristigen „Abstürzen“ sowie das aus den Verhaltenswissenschaften bekannte Phänomen, dass die negativen Emotionen bei Abstürzen am Aktienmarkt etwa doppelt so stark wirken, wie die Freude bei überraschenden Gewinnen, führt  zu entsprechenden Restriktionen bei der Anlage der Pensionskassengelder.

Dabei sprechen wir noch nicht einmal von den im BVG definierten Anlagerestriktionen – obwohl diese teilweise ebenfalls Ausdruck dieser Missverständnisse sind. Es geht insbesondere auch um adverse Anreizstrukturen bei den zuständigen Gremien in den Pensionskassen selbst, welche die (für die langfristige Performance an sich irrelevante) kurzfristige Volatilität vermeintlich riskanter Anlagen scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Warum? Marktpreispsychose, kurzfristige Narrative, Unverständnis (teilweise auch Desinteresse) für die langfristigen Prozesse und Angst vor gesellschaftlicher Schmähung bei kurzfristigen Ausschlägen.

Wir sollten uns nicht den Kopf zerbrechen, wie man mit staatlichen Mitteln einen Fonds zur Förderung innovativer Unternehmen auflegen könnte. Die Anlagemittel sind vorhanden (über CHF 800 Mrd. PK-Gelder). Wir müssen bei den entsprechenden Gremien einfach Anreize schaffen dafür, ohne Furcht in das wirtschaftliche Potential der Volkswirtschaft investieren zu können. Dazu braucht es eine Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz der kurzfristigen Schwankungen von Aktienbörsen. Sie sind als das zu nehmen was sie sind: Zufällige Ausschläge innerhalb eines langfristigen Trends, der durch Innovation und Gewinnentwicklung vorgezeichnet ist. Dabei werden gelegentliche Untergänge einzelner Firmen durch eine breite Diversifikation in ihrer Wirkung praktisch ausradiert. Um dies zu erreichen, braucht es eine Abkehr von kurzfristigen Risikokonzepten und auf kurzfristige Entwicklungen basierende Rechnungslegungsvorschriften sowie neu und anders definierte Verantwortlichkeiten bei den PK-Gremien.

All das ist nicht graue Theorie und schon gar nicht ein Aufruf zu spekulativem Verhalten. Internationale Untersuchungen bestätigen, dass man über die letzten 100 Jahre an den globalen Aktienmärkten sehr selten 10-Jahresperioden gesehen hat, die eine negative Rendite erbracht haben.

Zwei der international erfolgreichsten und am meisten beachteten Anleger der letzten Jahre haben sich explizit solchem Verhalten verschrieben. Konzentration auf die lange Frist, reale Aktiva sowie wirtschaftliches Potential, sprich: wohldiversifizierte Aktien- und Private Equity Portfolios und Herunterspielen der kurzfristigen Schwankungen. Ihre Performance spricht Bände und ihr Image ist weit weg von dem eines Spekulanten. Es ist der Investment Fund der Church of England und der Government Pension Fund von Norwegen.

Es geht hier nicht um die Qualität des Asset Managements. Es geht darum, Anreizstrukturen und Toleranz gegenüber kurzfristigen Schwankungen zu schaffen, welche es vernünftig erscheinen lassen, im Interesse einer langfristigen Performance der langen Frist die Rolle zukommen zu lassen, die ihr zusteht.

Zersplitterung

In der Schweiz verwalten noch immer rund 2’000 Pensionskassen die insgesamt etwas über CHF 800 Mrd. an Pensionsgeldern. Die Anzahl der Kassen ist zwar im Sinken begriffen und es ist eine verstärkte Konzentration bei grösseren Kassen festzustellen. Aber es ist kaum spekulativ zu vermuten, dass eine solche Zersplitterung einen hohen Grad von Ineffizienz, eine suboptimale Kostenstruktur und eine wohl eher unterdurchschnittliche Performance mit sich bringt.

Ein paar Zahlen mögen dies belegen: laut der Pensionskassenstudie 2017 der Swisscanto lag die durchschnittliche Performance über die letzten 10 Jahre bei den grössten Pensionskassen um rund 0.7 Prozent oberhalb derjenigen der kleinsten Kassen. Die Studie selber hält zwar die Unterschiede für marginal, immerhin summiert sich aber eine Differenz von 0.1 Prozent per annum bei einem Betrag von rund CHF 800 Mrd. auf CHF 800 Mio. pro Jahr.

Im Bereich der Kosten ein ähnliches Bild: Die Gesamtkosten pro Destinatär belaufen sich für die kleinen Kassen der Swisscanto-Studie (unter 250 Destinatären) auf über CHF 1’600 pro Versicherten, während dieser Wert bei den grossen Kassen (über 10’000 Versicherte) auf rund CHF 900 zu stehen kommt.

Die Vermögensverwaltungskosten liegen bei den Kassen im Durchschnitt bei rund 0.5% per annum. Dabei dürften die kleinen Kassen wiederum wesentlich schlechtere Konditionen haben als die grossen Kassen. Im Sample der Swisscanto Studie gibt es Kassen, die über 1% per annum bezahlen. Unter 0,1% bezahlt keine der befragten Kassen. Ohne behaupten zu wollen, man könne dies 1:1 vergleichen, sei aber trotzdem bemerkt, dass sich der oben bereits erwähnte Norwegische Government Pension Fund lobt, bereits vor 5 Jahren Anlageverwaltungsgebühren von gerade einmal 0.07% p.a. bezahlt zu haben. Heute sind es noch 0.02% p.a. Man rechne diese Differenz einmal für die genannten CHF 800 Mrd. hoch!

Es gibt viel zu tun und es gibt viel Potential. Es wird Zeit, es anzupacken.


[1] Der Autor ist Professor für Finanztheorie an der Universität Basel und am Swiss Finance Institute und Gründungspartner der Finanzausbildungsplattform fintool.ch

[2] Entsprechend vernachlässigen wir den Steuerzahler als weiteren Beitragszahler im Rahmen der ersten Säule, auch wenn die nachfolgenden Überlegungen zur Behandlung der anlagesuchenden Gelder hier natürlich ebenfalls Gültigkeit haben (können).

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